Unterwegs

Unterwegs – mit vielen Fragen und der Suche nach dem inneren Kompass 

 

Wer mich kennt, weiß, wie gerne ich reise und auch im Jahr 2019 waren wir wieder mehrere Wochen mit dem VW-Bus unterwegs. Diesmal in Südengland. Wieder ein Stück Europa mehr entdecken – England besuchen, bevor es sich aus der EU verabschiedet, Bildern im Kopf nachgehen und Vorstellungen überprüfen, einfach leben, Neues entdecken, aber auch den Kopf frei bekommen, wandern, uns den Wind um die Nase wehen lassen…

England hat uns das Ankommen nicht leicht gemacht, knapp zwei Wochen war das Wetter vorwiegend regnerisch und kalt, oft windig. Ein Wetter, was auf engen Raum im VW-Bus nicht wirklich Spaß macht.  Dann der ungewohnte Linksverkehr, engste Straßen, die von meterhohen Hecken gesäumt wurden und ein sehr tastende Fahrweise erforderten, jederzeit bereit, zu bremsen und nach Ausweichmöglichkeiten zu suchen.

Aber dann, der Himmel reißt auf, Landschaft öffnet sich ins Weite, Menschen begrüßen uns freundlich und zeigen uns die Schönheit der Orte, an dem sie leben und arbeiten. Wir finden Plätze und Orte, wo wir uns einfach nur wohlfühlen und uns ein klein bisschen in England verlieben.

Auch im Urlaub stellen sich Fragen 


So ganz von allem abzuschalten, ist mir trotzdem nicht gelungen. Die aufrüttelnden Themen und Herausforderungen unserer Zeit, wie der Klimawandel und seine Folgen und die oft erschreckenden politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die von immer mehr Egoismus, Unmenschlichkeit und Hass auf alles, was anders ist, geprägt sind.

Es scheint, es geht nur noch darum, den eigenen Wohlstand, die eigenen Interessen zu sichern, egal, was es kostet. Dazu kommen die enorme Beschleunigung von Prozessen, die wir kaum noch steuern können und Algorithmen, die unser Leben immer mehr bestimmen. All das dringt auch an beschauliche Orte in Cornwall, mag auch die Gegend  noch so idyllisch erscheinen.

Ich habe in diesem Sommer viel gelesen, vielleicht den ein oder anderen Zusammenhang etwas besser verstanden, aber es bleiben so viel mehr Fragen. Vor allem bewegen mich die Fragen: Wie kann es gelingen, dass wir uns wieder mehr auf unsere Menschlichkeit besinnen? Wie können wir zu einem neuen Miteinander kommen? Wie unser Wirtschaften und Arbeiten so gestalten, dass alle das haben, was sie für ein gutes Leben brauchen? Und was brauchen wir dazu eigentlich wirklich? Was können wir lassen oder verändern, weil wir in den Industrienationen momentan so viel mehr Ressourcen verbrauchen, als jeden von uns zur Verfügung steht und wir ständig auf Kosten unserer Mitwelt und zukünftiger Generationen leben?  Und was können wir stärken und schützen, weil es Leben erst wirklich lebenswert macht?

Ich denke, dass nicht nur ich, sondern jede/r einzelne von uns vor gewaltigen Herausforderungen steht, Antworten dazu zu finden und zu leben.  Das ist Arbeit und oft unbequem. Es ist eine schwierige Balance, einerseits nicht in eine vermeintliche Idylle oder in die Ablenkung zu fliehen und anderseits nicht in Panik, Weltuntergangsstimmung und blinden Aktivismus zu geraten. Manchmal fühle ich mich davon ziemlich gebeutelt und auch ratlos.

Wo geht es lang?

Es kommt mir so vor, wie auf den heckenumsäumten Straßen in England unterwegs zu sein. Oft keinen Überblick zu haben, nicht zu wissen, wo es lang geht. Und doch unterwegs zu bleiben, tastend, fragend, bereit zu bremsen oder umzudrehen, wenn es nicht weitergeht. Dass heißt auch: angewiesen sein auf die Verständigung mit anderen Verkehrsteilnehmern, aufmerksam sein, Rücksicht nehmen, selbst auch mal zurückweichen, die Geschwindigkeit den Verkehrsverhältnissen anzupassen.

Ich bin froh über Wegweiser oder Ortskundige. Ich möchte die Bestimmung der Route nicht immer der Maschinen-Logik des Navigationsgeräts zu überlassen, sondern mithilfe der Karte selbst die Route zu wählen,  weil nicht nur das Ziel, sondern auch der Weg dahin wichtig ist. Ich will neugierig bleiben und mich überraschen lassen, dass sich auf einmal etwas zeigt oder öffnet, mit dem ich nicht gerechnet habe.

Innerer Kompass


Glücklicherweise kann sich das Gehirn dank seiner Neuroplastizität auf neue Herausforderungen einlassen. Das gilt für das Linksfahren genauso wie mit anderen sich verändernden Lebensumständen. Wir können lernen, wir können unser Leben gestalten und sind nicht nur blinden Mächten oder künstlicher Intelligenz ausgeliefert.

Was wir dazu brauchen ist, neben unserer Entdeckerfreude und Gestaltungslust, ein innerer Kompass, der uns anzeigt, ob wir in die richtige Richtung laufen. Für manche ist dieser Kompass eine spirituelle Tradition, für andere ein Hören auf eine “innere Stimme”, Gerald Hüther schlägt den Begriff “Würde” vor, der uns Orientierung geben könnte:

“Diese Vorstellung ist tief verwurzelt und eingebettet in die innere Überzeugung von dem, was uns als Menschen auszeichnet und worin unser eigentliches Menschsein zum Ausdruck kommt. Sie bringt das dabei gewonnene, implizite Wissen zum Ausdruck, wie dieses Zusammenleben gestaltet werden müsste, um die in uns Menschen als soziale Wesen angelegten Möglichkeiten entfalten zu können.

Diese mehr oder weniger deutlich ausgeprägte Vorstellung wird dann als inneres, orientierungbietendes Bild genutzt, um das eigene Handeln so auszurichten, dass ein solches Zusammenleben gelingt. Die Vorstellung von der eigenen Würde wird also zu einem wesentlichen Bestandteil des Selbstbildes. Kein Mensch und auch kein anderes Lebewesen kann die in ihm angelegten Potentiale entfalten, wenn er, sie oder es wie ein Objekt behandelt oder benutzt wird. Deshalb wird, wer die Wahrung seiner eigenen Würde und der Würde anderer zur Grundlage seines Handelns macht, nicht mehr auf Kosten anderer leben wollen. Weil sie einen inneren Kompass besitzt, der sie führt, ist eine solche Person auch nicht mehr verführbar. “ (https://www.wuerdekompass.de/in-wuerde-leben/was-ist-das-unsere-wurde)

Der Gedanke an die Würde beschäftigt mich, er ist mir aus meinem christlichen Selbstverständnis heraus  nicht neu. Aber es braucht nach Hüther nicht notwendig einen religiösen Hintergrund für die Erkenntnis von Würde:

“Aus neurobiologischer Sicht handelt es sich dabei um ein inneres Bild, also um ein in dieser Situation aktiv werdendes neuronales Verschaltungsmuster, das sehr eng an die Vorstellungen der eigenen Identität gekoppelt und damit zwangsläufig auch sehr stark mit emotionalen Netzwerken verknüpft ist. Es geht dabei um eine innere Vorstellung davon, was für ein Mensch jemand sein will. Für diese Orientierung-bietende, vor jeder Art von Durcheinander im Hirn schützende Vorstellung gibt es diesen wunderbaren, wenngleich fast schon vergessenen Namen: Würde, Dignitas, Dignite, Dignidad, Dignity.”(s.o.)

In was für einer Welt wollen wir leben?


Was für ein Mensch möchte ich sein? In welcher Gesellschaft möchte ich leben? Und welche kleinen Schritte kann ich konkret gehen, um so zu leben, dass meine Art zu leben immer mehr in Übereinstimmung mit meinem inneren Kompass kommt? Diese Fragen werden mich über den Sommer hinaus begleiten und auch meine Arbeit beeinflussen…

Das war nun ein langer Text und Einblick in das, was mich bewegt. Wenn du magst, schreibe mir, wo du in Resonanz gehst – sei es positiv oder eher ablehnend. Welche Fragen dich bewegen oder wo du für dich Antworten gefunden hast. Ich bin gespannt von dir zu lesen.

Ich wünsche dir (und mir selbst auch 😉 ) noch schöne Sommertage und auch Zeiten, in der die großen Fragen mit ihrer Schwere hinter den leichten Momenten des Lebens mit ihren Überraschungen, Freuden und der Erfahrung von Liebe und Verbundenheit zurücktreten – weil sich in diesen Momenten alles von selbst beantwortet…


Martina

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